Mitgefühl und Selbstmitgefühl sind Schlüsselfaktoren für die seelische Gesundheit. Das gilt mittlerweile als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis. Doch warum ist es so? Und wie können wir Mitgefühl und Selbstmitgefühl entwickeln? Diese Fragen beantworten die Autoren Erik van der Brink und Frits Koster in ihrem Buch “Mitfühlend leben”.
Inhalt
Mitfühlend leben: das Buch und die Autoren
Die Autoren Erik van der Brink und Frits Koster kommen aus dem Gesundheitswesen, arbeiten im psychosozialen Bereich und haben jahrelang intensive Erfahrungen in der Praxis der Achtsamkeit, Meditation und Entwicklung von Selbstmitgefühl. Sie kommen aus den Niederlanden und das Buch “Mitfühlend leben” wurde aus dem Niederländischen übersetzt. Das finde ich wohltuend anders, denn die meisten Bücher zum Thema Selbstmitgefühl stammen aus dem englischsprachigen Raum.
“Mitfühlend leben” ist kein reines Sachbuch, sondern eine Mischung aus Theorie und Praxis. Das Besondere dabei ist, dass sich das Buch ganz konkret an Menschen wendet, die die Praxis des Mitgefühls in Kursen unterrichten wollen.
Die Praxis des Mitgefühls ist in acht Kapitel eingeteilt, in denen es fundierte Erklärungen und viele Übungen gibt. Am Ende eines jeden Kapitels steht eine Kurseinheiten zum Lehren von Selbstmitgefühl in einer Gruppe. Theorie, Praxis und Kursaufbau können eins-zu-eins in die Lehrpraxis umgesetzt werden. Auch auf mögliche Widerstände von Kursteilnehmern und Schwierigkeiten beim Entwickeln von Selbstmitgefühl gehen die Autoren ein.
Sie empfehlen, Mitgefühl in einer Gruppe zu lernen, da der sogenannte “Resonanzkreis” die Erfahrung des Mitgefühls vertieft und die Teilnehmer voneinander und aneinander lernen. Selbstverständlich kann man Selbstmitgefühl auch mit den Inhalten und zahlreichen Übungen des Buches allein lernen kann.
Inhaltsverzeichnis
Das Buch “Mitfühlend leben” ist wie folgt aufgebaut:
Eine andere Sichtweise des Leidens
Was ist Selbstmitgefühl und warum ist es wichtig?
Mitgefühlstraining in der Praxis: Acht Kurseinheiten
- Drei Regulationssysteme für Gefühle
- Stressreaktionen und Selbstmitgefühl
- Innere Muster
- Der Mitgefühlsmodus
- Selbst und andere
- Am liebsten alle glücklich
- Von Mitgefühl bewegt
- Die Möglichkeiten erweitern mit Mitgefühl
Der mitfühlende Therapeut
Selbstmitgefühl in der psychosozialen Praxis
Mitgefühl – die Unterschiede
In “Mitfühlend leben” stellen die Autoren die von ihnen entwickelte Methode der Praxis des Selbstmitgefühls vor, nämlich das MBCL = Mindfulness Based Compassionate Living.
Am Anfang des Buches verorten die Autoren ihre Methode und klären über viele Begriffe auf: Was ist Achtsamkeit? Was ist Mitgefühl? Welche Haltung steht dahinter? Was ist buddhistische Psychologie?
Denn Achtsamkeit ist nicht gleich Achtsamkeit. Jede Methode hat Vorteile und Nachteile, andere Voraussetzungen und eine andere Zielgruppe.
Dies sind die Unterschiede:
- MBSR = Mindfulness Based Stress Reduction: entwickelt von Jon Kabat-Zinn, dient der Stressbewältigung durch Achtsamkeit
- MBCT = Mindfulness Based Cognitive Therapy: entwickelt von Zindel Segal, Mark Williams, John Teasdale: Achtsamkeitstraining, das der Rückfallprophylaxe bei Depression dient
- MSC = Mindful Self Compassion: entwickelt von Christopher Germer und Kristin Neff, dient dem Mitfühlenden Leben, keine Achtsamkeitspraxis notwendig
- MBCL = Mindfulness Based Compassionate Living: entwickelt von den Autoren Erik van der Brink und Frits Koster, dient dem Mitfühlenden Leben, setzt Achtsamkeitspraxis voraus
Die Autoren erklären die Begriffe Selbstmitgefühl, Achtsamkeit und Empathie – und zwar aus mehreren verschiedenen Perspektiven. Dadurch erhalten die Leserinnen eine vertieftes und umfassendes Verständnis.
Sie gehen darauf ein, warum Selbstbewusstsein etwas anderes ist als Selbstmitgefühl. Für die psychische Gesundheit ist die Entwicklung von Selbstmitgefühl wichtiger als die Entwicklung von Selbstwertgefühl – obwohl das in der gängigen Psychologie anders gesehen wurde und noch gesehen wird. Wenn Selbstmitgefühl geübt wird, folgt daraus automatisch Selbstwertgefühl.
Für die psychische Gesundheit ist die Entwicklung von Selbstmitgefühl wichtiger als die Entwicklung von Selbstwertgefühl.
Andrea Wiedel
Die Autoren beziehen sich auch auf die bislang bekannten Theorien zur Entwicklung von Selbstmitgefühl von Christopher Germer, Kristin Neff und Paul Gilbert.
Selbstmitgefühl lernen in Übungen
Es sind zahlreiche Übungen bzw. Übungsanleitungen zum Erlernen von Selbstmitgefühl, die aus unterschiedlichen Kontexten entlehnt sind, hauptsächlich aber aus dem Buddhismus und dem Achtsamkeitstraining.
Viele Übungen waren mir bereits aus anderen Kontexten bekannt, zum Beispiel die Metta-Meditation (Freundlichkeitsmeditation bzw. Mediation der freundlichen Güte), das Tonglen (Mitfühlendes Atmen), das Dankbarkeitstagebuch oder das bloße Gewahrsein der eigenen Befindlichkeit.
Manche Übungen waren auch für mich neu, erfrischend und überraschend anders, zum Beispiel die Übung Mitfühlend gehen oder das Mitgefühlstagebuch.
Die Übungen zur Entwicklung von Mitgefühl und Selbstmitgefühl variieren sehr stark: Es gibt ruhigere Übungen im Sitzen und Spüren, im Gehen aber auch das Tagebuchschreiben, wo eher der kognitive Aspekt betont wird. Es ist für jeden und jede etwas dabei.
Regulationssysteme für Gefühle
Warum ist die Entwicklung von Selbstmitgefühl wichtig? Dies erklären die Autoren anhand von drei Regulationssystemen für Gefühle, welche auf wissenschaftlichen neurobiologischen und neurophysiologischen Erkenntnissen beruhen.
Zur Regulierung von Gefühlen haben wir drei Systeme im Gehirn:
- Alarmsystem: Wir sind im traumatischen Überlebensmodus von Kampf, Flucht oder Starre
- Antriebssystem: Wir sind im Dopamin gesteuerten Modus von Ziele erreichen, Erfolg und Selbstbewusstsein
- Fürsorgesystem: Wir nehmen unsere Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen war und lassen sie wertfrei da sein
Normalerweise sind wir in unserer Gesellschaft sehr oft im Antriebssystem oder – wenn wir traumatisiert sind – im Alarmsystem. Auch diese beiden Systeme haben ihre Berechtigung. Gesund sind wir, wenn wir flexibel zwischen allen drei System wechseln können. Und wenn wir das Fürsorgesystem entwickeln, was normalerweise bei vielen Menschen unterentwickelt ist.
Für psychische Gesundheit und Glück ist die Entwicklung des Fürsorgesystems unabdingbar.
Andrea Wiedel
Manche Menschen haben in ihrer Vergangenheit wenig Mitgefühl von ihren Bezugspersonen erfahren. Ihnen fällt es sehr schwer, das Fürsorgesystem zu entwickeln. Wenn diese Menschen anfangen, sich in Mitgefühl zu üben, dann kann so fremd und bedrohlich auf sie wirken, dass das Alarmsystem aktiviert wird.
Selbstmitgefühl und Gewaltfreie Kommunikation
Die Erfahrungen des Selbstmitgefühls decken sich mit meinen Erfahrungen der Selbstempathie auf Basis der Gewaltfreien Kommunikation. Zum einen ist es mir sehr leicht gefallen, den Ausführungen der Autoren zu folgen, weil Empathie und Selbstempathie nach Marshall Rosenberg eine wertfreie Haltung und achtsames Gewahrsein der inneren Befindlichkeit trainiert – also genau der Eigenschaften, die man fürs “Mitfühlend Leben” braucht.
Allerdings finde ich es schade, dass die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg in diesem Buch nicht erwähnt wird – obwohl sie ein hervorragendes Modell ist, um Mitgefühl und Selbstmitgefühl zu lernen. Dies beweisen zum Beispiel Sarah Peyton und Robert Gonzales:
Sarah Peyton erklärt in ihrem Buch “Selbstresonanz” (hier geht’s zum Buchtipp), warum Selbstempathie für unser Gehirn wichtig ist gibt zahlreiche Meditationen zur Entwicklung von Selbstmitgefühl auf MP3.
Robert Gonzales (hier geht’s zu einem Buchtipp mit einem Kapitel von Robert Gonzales, das ich auch sonst sehr empfehlen kann). hat auf Basis das Modell der Fülle der Bedürfnisse entwickelt. Sein Modell der “Living Compassion” (lebendes Mitgefühl) ist dem Konzept des “Mitfühlend Leben” der Autoren vom Titel und Inhalt sehr ähnlich.
“Mitfühlend Leben” Buchtipp – Fazit
Das Buch „Mitfühlend leben“ richtet sich an alle, die an Achtsamkeits- und Mitgefühlspraxis im Rahmen der Gesundheitsfürsorge interessiert sind. Es ist verständlich geschrieben, so dass es von einem breiten Publikum gelesen und verstanden werden kann – und auch die Übungen umgesetzt werden können. Es liefert fundierte theoretische Hintergründe, warum die Praxis von Selbstmitgefühl und wertfreier Achtsamkeit für die psychosoziale Gesundheit wichtig ist.
Ich selbst konnte sehr viel von diesem Buch profitieren, für meine Coaching-Praxis und Seminare – aber auch für mich persönlich.
Eine Lesetipp für alle, die mitfühlend leben wollen und/oder es sogar in Gruppen unterrichten wollen.
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