Was hat Wut mit emotionalen Verletzungen zu tun?

Was hat Wut mit emotionalen Verletzungen zu tun?Wir werden wütend, wenn wir Bedürfnisse unterdrücken müssen.

Der Wut vertrauen

Weil es gute Gründe dafür gibt. Die gesunde Portion Lebensenergie.

Über Wut gibt es unterschiedliche Theorien. In der Gewaltfreien Kommunikation gilt sie als Sekundärgefühl. Nach diesem Modell liegen unter der Wut andere Gefühle wie Angst oder Trauer. Diese Gefühle sind für die Psyche so schmerzhaft, dass sie mit Wut abgewehrt werden. Als Trainerin und Coach mit der GFK als Basis hatte ich lange Zeit dieses Konzept vertreten, aber mittlerweile davon ein bisschen Abstand genommen. Heute bin ich der festen Überzeugung, dass Wut ein Primärgefühl ist, vielleicht das primärste Gefühl überhaupt.

Ein Grund für meinen Gesinnungswandel war meine intensive Beschäftigung mit dem Thema Entwicklungstrauma aufgrund persönlicher Betroffenheit –- und Selbsterfahrung in einer psychosomatischen Klinik.

Was ist Wutkraft?

Wut hat in unserer Gesellschaft einen unangenehmen Touch und ist in vielen Zusammenhängen, vor allem für Frauen und Kinder, unerwünscht. Sie wird oft mit Aggression oder Gewalt verwechselt, aber Wut ist etwas anderes. Wut ist Lebensenergie und Lebenskraft. 

In östlichen Theorien spricht man von Chi, französisch wird sie engergie vitale genannt. Jeder Mensch hat von Geburt an eine gesunde Portion Lebensenergie mitgekommen und sehnt sich nach deren Entfaltung. Die Hirnforschung findet Belege für dieses Konzept. Diese Lebensenergie ist nicht mit Egoismus zu verwechseln, sie ist lebenswichtige Ich-Stärke. Wir brauchen sie um unsere Grenzen zu verteidigen und uns für die Erfüllung unserer Bedürfnisse einzusetzen. Wut ist kraftvoll und schön.

Warum unterdrücken wir sie? Weil schon die Eltern mit wütenden Kindern nicht umgehen können und Kinder lernen Wut zu unterdrücken. Weil auch unser Umfeld damit überfordert ist und niemand so recht weiß, wie man mit dem Gefühl der Wut umgehen sollte. Weil Menschen Angst haben, von ihrer Wut überwältigt zu werden. Weil Wut nicht gewollt ist, Menschen aber dazugehören wollen.

Mit der Wut unterdrücken wir auch unsere Lebensenergie, die von Natur aus fließen will. Und das Paradoxe: Es kostet vermutlich mehr Kraft die Energie zu unterdrücken, als sie fließen zu lassen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem PKW auf einer Allee und genießen es dahinzufliegen. Plötzlich sehen Sie einen LKW, und beim Näherkommen erkennen Sie: er fährt langsamer als gedacht. Es gilt ein Überholverbot und Sie fühlen Sie sich ausgebremst. Und obwohl Sie viel weniger Sprit verbrauchen, spüren Sie Anspannung und Stress, ganz anders als bei freier Fahrt. 

Wut kann ein Mangel für Selbstausdruck sein

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie unterdrückte Wut sich anfühlt, dass sie Verspannungen im Bauch verursachen kann, überhaupt körperliche Symptome, Frustration und Erschöpfung. Nach meiner persönlichen Theorie besteht das Gefühl Frustration aus den Gefühlen Wut und Schmerz. Wut über die Grenzen, die dem Selbstausdruck gesetzt werden, und Schmerz, weil es weh tut, seine Individualität zu unterdrücken. 

Wut spielt nach meiner Erfahrung auch bei der Auflösung von schmerzvollen Erfahrungen eine Rolle, sogenannten Traumata. Die entstehen, wenn Bedürfnisse in massiver Weise übergangen, verletzt, nicht erfüllt werden. Im ersten Schritt treten wir mit Wut für unsere Bedürfniserfüllung ein. Wenn wir damit erfolglos bleiben, reagieren wir mit Resignation. Das heißt, wir spalten uns von der Erwartung ab, dass unsere Bedürfnisse doch noch erfüllt werden. Unsere Wut, die wir darüber empfinden, unterdrücken wir und damit auch unsere positive Lebensenergie.

Wohlbemerkt, es handelt sich hier um Bedürfnisse grundlegender Art: nach Unversehrtheit, Geborgenheit, Liebe und Nähe, nach Entfaltung und Autonomie. Und natürlich auch nach Behausung, Nahrung, Kleidung. Kinder, deren Bedürfnisse massiv verletzt wurden, haben jegliche Erwartung auf ihre Erfüllung aufgegeben. Das ist die Traumatisierung: Diese Kinder unterdrücken die Lebensenergie, die sie nicht ans Ziel bringt, damit sie nicht ständig spüren, dass ihre Bedürfnisse nicht erfüllt sind. 

Die Auflösung solcher traumatisch gebundenen Erfahrungen erfolgt von der Phase der Resignation und des Selbsthasses über die Wut zum grundsätzlichen Vertrauen darauf, ich meine Bedürfnisse erfüllen kann und Zugang zur Lebenskraft habe.

Coachingbeispiel: die Wut auflösen

Ein Beispiel aus dem Coaching. Die achtzehnjährige Christina hat den Liebesantrag eines guten Freunds abrupt zurückgewiesen. Daraufhin ist die Freundschaft zerbrochen. Im meinen Coachings analysiere nicht das Verhalten, sondern gebe allen Gefühlen emotionalen Raum – im Vertrauen darauf, dass durch Empathie Klärung und Heilung geschieht.

Christina fühlte sehr viel Bedauern, Trauer und Schmerz über ihre eigene Ungeschicklichkeit und den Verlust der Freundschaft. Hierfür schenkte ich ihr Empathie, und öffnete den emotionalen Raum, diese Gefühle da sein zu lassen. Nach einer halben Stunde spürte sie schon eine gewisse Erleichterung und konnte sich selbst verzeihen. 

Ich spürte, dass es noch nicht an der Zeit war für eine konkrete praktische Lösung. Deshalb lud ich Christina ein, noch eine Weile bei den aktuellen Emotionen zu bleiben. Und siehe: Der Schmerz verwandelte sich in Wut. Christina war wütend auf ihren Freund, weil er offenbar kein Vertrauen zu ihr hatte, ihre guten Absichten nicht erkannte und ihre Freundschaft aufgab. Dieser auftauchenden Wut gab ich weiter den emotionalen Raum und schenkte Christina Empathie.

Es war nicht von vorn herein klar, ob Christina in die Wut kommen würde. Es hätte auch sein können, dass Bedauern und Schmerz über die eigene Ungeschicklichkeit ausgereicht hätten, um diese Erfahrung zu „heilen“. Ich verlasse mich da stets auf die innere Weisheit meines Coachees und vertraue dem empathischen Prozess. Schließlich entwickelte ich mit Christina einen Kraftsatz, der das neue Lebensgefühl in Worte fasste: Die Menschen dürfen mir vertrauen, weil es gute Gründe dafür gibt. Ich selbst vertraue mir, weil es gute Gründe dafür gibt.

Nach dem Coaching fühlte sich Christina kraftvoll, leicht und lebendig. Ihr Kraftsatz ist über die konkrete Situation hinaus anwendbar. Das ist das Schöne am empathischen Coaching: der Klient bearbeitet eine konkrete Situation und entwickelt gleichzeitig eine neue positive Einstellung für künftige Krisen-Situationen.

Dieses Beispiel  zeigt, dass Wut nicht nur ein Sekundärgefühl ist. Christinas Wut ist mit ihrer Lebenskraft verbunden, führt zu Selbstvertrauen und der Erwartung, dass ihre Mitmenschen auf die positive Absicht ihrer Handlungen vertrauen dürfen.

Andrea Wiedel, Bayreuth, Kommunikationstrainerin und Coach, Autorin des Buches „Zuhören ist ein Geschenk“ (Kösel, 2019). www.coaching-akademie.blog


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Kategorie Allgemein

Ich bin Juristin und Coach. Als Juristin berate ich für einen gemeinnützigen Verein Menschen mit Behinderung - auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Als Coach begleite ich Menschen mit emotionalen Verletzungen dabei, ihre Kindheitstraumata zu bearbeiten und ihr inneres Kind zu heilen. Die Methode ist Coaching mit Tiefer Empathie, die auf der Basis der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg - aber auch nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen.

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